«Die elektrische Luftfahrt steht heute da, wo wir vor 10 Jahren mit Elektroautos waren»

Denken wir nur zehn Jahre zurück – da konnte sich kaum jemand vorstellen, dass Teslas zum gängigen Straßenbild gehören und Fahrleistungsrekorde der Verbrenner mühelos brechen könnten. Heute haben praktisch alle Hersteller elektrisch betriebene Fahrzeuge im Angebot oder konkret angekündigt. Die Zeit ist schnell vergangen, scheint es. Wie im Flug.

Wenn wir jetzt zehn Jahre in die Zukunft der Luftfahrt schauen, gibt es gute Gründe anzunehmen, dass wir elektrische Flugzeuge für selbstverständlich halten und diese erheblich anders aussehen werden, als wir das heute gewohnt sind. Wer hätte 2008 gedacht, das wir mal elektrische e-Air-Racer fliegen werden? Und wer kann sich heute schon vorstellen, dass wir 2030 in elektrischen Personen- Drohnen fliegen werden?

Bei Vorträgen zu diesem Thema kommt aus dem Publikum üblicherweise eine Mischung aus «die Batterien sind zu schwer, die Reichweite zu klein, das wird niemals fliegen oder ist viel zu teuer». Unisono: «So schnell wird das alles nicht gehen.»

Es ist ein menschliches Phänomen, dass wir Zeit rückblickend als sehr schnell vergangen wahrnehmen. Dabei unterschätzen wir massiv, was in ferner Zukunft (~10 Jahre) möglich sein wird und überschätzen die Möglichkeiten von kleinen Zeiträumen (~2 Jahre). Uns auszumalen, wie es in der Zukunft aussieht, fällt sehr schwer. Dabei sind technische Entwicklungen in gewisser Weise vorhersehbar, da Technologien aufeinander aufbauen, sich gegenseitig beschleunigen oder erst ermöglichen.

Tipping Points

Die Vorhersehbarkeit jedoch endet an sogenannten Tipping-Points oder Wendepunkten: disruptive Veränderungen in Systemen, die sich nicht angekündigt haben. Die Corona-Krise ist so ein Beispiel. Eine Pandemie an sich war generell zu befürchten, aber wer hätte jemals gedacht, dass es möglich wäre, den Flugverkehr innerhalb weniger Tage de facto lahm zu legen?!

Der Klimawandel ist ein anderes Beispiel. Mit Einschränkungen für den Klimaschutz haben wir uns bisher schwergetan. Bei langsamen und lange unsichtbaren Veränderungen bei so wenig Greifbarem, fällt es uns schwer, unser Verhalten zu verändern. Das, obwohl die Auswirkungen für die Zukunft klar interpolierbar sind und auch hier das Überschreiten eines Tipping Points (z.B. 1,5°C Erwärmung im Jahresdurchschnitt) disruptive Veränderungen, wie das Auftauen der Permafrostböden, unumkehrbar machen wird, da dieser Vorgang eine unaufhaltsame Kettenreaktion auslösen wird.

Corona und der Klimawandel

Die weltweite Corona-Pandemie dagegen hat innerhalb von wenigen Tagen die Flugbewegungen praktisch zum Erliegen gebracht. Es ist also möglich. Um dem Klimawandel zu begegnen, werden wir – jeder von uns, aber auch die Luftfahrtindustrie – unseren Beitrag leisten müssen, wobei hier alle Aspekte von Klimaschutz, Globalisierung, Reiselust und wirtschaftlicher Tragbarkeit berücksichtigt werden müssen, damit die Maßnahmen und deren Auswirkungen akzeptiert werden. Die Elektrifizierung des Antriebs ist ein Aspekt, um die Luftfahrt klimafreundlicher zu gestalten. Und der elektrische Antrieb bietet noch viel mehr Vorteile als nur den CO2-neutralen Flug!

Corona als Chance
Was nach der Krise anders sein wird

COVID-19 hat in nur wenigen Wochen die Weltwirtschaft abgewürgt und hunderttausende Menschen getötet, und uns zugleich technologisch und gesellschaftlich weitergebracht, als jahrelanges Reden über digitale Transformation und Grundeinkommen es schafften. Wenn wir diese „gute Krise nicht vergeuden“ wollen, dann bietet sich jetzt die Chance, unsere Gesellschaft zu einem fairen und unsere Wirtschaft zu einem nachhaltigen System zu ändern. Anhand von Signalen aus verschiedenen Industrien, Technologien und der Gesellschaft geht der Autor darauf ein, was sich ändern wird, und wo es Entscheidungsträger und Investoren schritte setzen können, um diese Chance für eine neue Normalität zu nutzen.

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Neue Designkonzepte durch verteilte Antriebssysteme

Die Elektrifizierung des Antriebs öffnet den Designspace des Flugzeugbaus in faszinierende Dimensionen und ermöglicht es innovativen und kreativen Entwicklern, völlig neue Flugzeugtypen zu entwerfen. Mit Antrieben an Stellen, die bis vor kurzen undenkbar waren und bei denen auch Piloten nicht auf den ersten Blick erkennen können, in welche Richtung die Fluggeräte fliegen. Machen wir den Test am Beispiel Lilium Jet: Fliegt die Maschine von uns weg oder auf uns zu?

In diesem Rendering fliegt der Lilium Jet auf New York zu, die Flugrichtung ist vor allem an der Form der Winglets zu erkennen. Die ungewöhnliche Triebwerkskonfiguration (36 Impeller!), die Entenflügel und das fehlende Seitenleitwerk machen es schwer, die Flugrichtung zu identifizieren. Diese Konfiguration wäre übrigens weder mit fossilem Antrieb zu realisieren noch von Menschen- hand zu fliegen. 36 Schubhebel, Schubvektoring, die fehlende Stabilisierung einer Seitenflosse und der aerodynamisch komplexe Übergang vom senkrechten in den horizontalen Flug übersteigen die menschlichen Fähigkeiten. 36 individuell ansteuerbare Impel- ler mit einem fossilen Antrieb wären ohnehin mechanisch nicht sinnvoll zu synchronisieren.

Das Design ist der Sklave des Antriebs

Ein Flugzeugdesign war schon immer der Sklave des Antriebskonzepts. So wird deutlich, dass ein elektrisches oder auch hybrid-elektrisches Antriebssystem das Grundkonzept eines Flugzeugs voll- ständig neu denken lässt.

Die Eviation Alice ist ein weiteres Beispiel mit einem ungewöhnlichen Antriebskonzept, welches ausgeprägte aerodynamische Vorteile hat. Die frei an- und abgeströmten Propeller an den Wingtips wären zum einen mit schweren, fossilen Antrieben nicht machbar.

Zum anderen aber ermöglicht allein diese Neukonfiguration des Antriebs massive Effizienzgewinne, der verbesserte Wirkungsgrad des Gesamtantriebssystems wäre auch mit aufwändiger Weiterentwicklung von Kolben oder Turbinen-Antrieben schlicht nicht mehr möglich.

Auf der Website Transport-Up findet sich eine umfangreiche Sammlung verschiedener Projekte zukünftiger Fluggeräte. Wenn auch nur ein Bruchteil der dort gezeigten Entwicklungen tatsächlich «zum Fliegen kommt», werden wir völlig neue Silhouetten von Fluggeräten am Himmel bestaunen können. Wenn aber der Luftraum von all diesen neuen Fluggeräten beansprucht wird – welche Geräuschkulisse werden wir zu erwarten haben?

Transport-Up

Lärmemissionen

Bei all den neuen Möglichkeiten von An- trieb, Werkstoffen und Design – die Physik ist nicht zu überlisten. Wenn elektrische Senkrechtstarter betrachtet werden, kann die Lärmbelästigung schon anhand der Propellerkreisflächenbelastung und der Blattspitzengeschwindigkeit grob geschätzt werden. Große, langsam drehende Propeller sind da klar im Vorteil. Ein Lilium Jet ist vielleicht nicht nur zufällig auf all seinen Youtube-Videos mit angenehmer Musik statt realer Geräuschkulisse unter- legt. Im Vergleich dazu ist der Volocopter schon vor Zuschauern geflogen und war dabei «überraschend» leise. Wir können also erwarten, dass VTOL (Vertical take off and landing)-Konzepte mit relativ geringen Flächenbelastungen/Drehzahlen im heutigen Alltagslärm einer Großstadt untergehen. Wenn man noch davon ausgeht, dass diese Fluggeräte in dicht besiedelten Megacities auf den Hochhausdächern starten und landen, sollte der Abstand von der Lärmquelle schon so groß sein, dass diese Fluggeräte akustisch nicht mehr ins Gewicht fallen. Darüber hinaus gibt es kreative Ideen, den Lärm durch «gerichteten Gegenlärm» (ähnlich dem Active Noise Cancelling in den Piloten-Headsets) an der Quelle zu eliminieren.

Elektrisch angetriebene Flächenflugzeuge können schon auf Grund ihres praktisch geräuschlosen Motors erheblich leiser sein als ihre Kolben- oder Turbinen-Pendants. Die primäre Lärmquelle ist der Propeller und seine Platzierung am Rumpf: Laminar angeströmt wird er leiser sein als ein Pusher, der in den Wirbeln des Rumpfes arbeiten muss. Ein Propeller oberhalb der Tragfläche oder am Seitenleitwerk positioniert, kann von den lärmabschirmenden Eigenschaften der Tragflächen profitieren. Hier kommt es auf geschicktes Design an, um einen Kompromiss zwischen statischen, aerodynamischen und akustischen Bedürfnissen zu finden. Auch eine Mischung von elektrisch angetriebener und damit geräuscharmer Startphase und anschließend konventionell angetriebenem Reiseflug kann die wahrgenommene Lärmbelastung am Boden stark beeinflussen.

Ausblick: Was das für Piloten bedeutet

In naher Zukunft werden leistungsfähige elektrische oder hybride Antriebe für Flugzeuge verfügbar sein. Damit öffnet sich der Designspace in faszinierende Dimensionen. Für Flächenflugzeuge wie auch für Senkrechtstarter. Oder alle Mischungen davon.

Zum Autor – Morell Westermann

Morell Westermann ist Zukunftsforscher, Ingenieur und Pilot. Als Senior Partner der Future Matters AG in Zürich analysiert er die Megatrends der nächsten zehn Jahre. Dabei untersucht er die verschiedenen Technologieentwicklungen, die unsere Gesellschaft in der Zukunft prägen werden. Morell Westermann ist Experte für die Themen Aviatik, Elektromobilität sowie Digitalisierung und zeigt Wege zu einer CO2-neutralen Gesellschaft auf. Auf Kongressen und Tagungen thematisiert Morell Westermann die Konvergenz dieser Entwicklungen und Megatrends. Er ist regelmäßig auf Events und Kongressen als Keynotespeaker, Moderator und als Experte beim Schweizer Fernsehen zu sehen. Sein Blog über die Elektromobilität im Alltag wird von mehreren Tausend Lesern monatlich aufgerufen. Westermann war schon mehrfach Gast bei den größten deutschsprachigen Podcasts über Elektromobilität.

http://future-matters.com/
Blog: www.morellife.com
Podcast: www.cleanelectric.de/luftfahrt

Dieser Beitrag ist auch auf Englisch erschienen.

5 Kommentare

  1. Hallo Mario – danke für den interessanten „elektrische Luftfahrt“ Beitrag. Hab mir für 2030 einen Link auf diesen Beitrag in den Kalender geschrieben. Die Rückschau ist manchmal gleich interessant wie die Prognose.
    Leider ist WordPress irgendwie eine ewige Baustelle mit einer zum Teil miesen, sperrigen, non-intuitiven Usability, weshalb ich den deinen Beitrag nicht in meinem Blog (hinein)-„teilen“ konnte. Stattdessen hab ich einfach eine unveränderte Kopie gemacht. WordPress ist auch ein bisschen wie „Diesel“.
    Dein eBook „Corona als Change“ war gestern meine RegenLiteratur. Danke.

    Gruß aus Tirol in´s Valley – Stefan

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  2. Hallo Stefan, danke für das positive Feedback zu meinem Artikel, den ich als Gastautor bei Mario publizieren durfte. Vielleicht kannst du von meinem Blog den Artikel via Pingback verknüpfen. Gruss aus der Schweiz, Morell

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