An sich sind die alljährlich veröffentlichten Disengagementberichte der kalifornischen Verkehrsbehörde schon aufregend und kontrovers genug in der Gemeinschaft der Fans und Entwickler von autonomen Autos. Aber dieses Jahr hat die Kontroverse einen neuen Grad erreicht. Und der hat weniger damit zu tun, dass einzelne Unternehmen um Prozentpunkte feilschen, wie weit deren Robo-Autos ohne den Eingriff eines menschlichen Sicherheitsfahrers fahren können, sondern um die Angaben eines einzigen Unternehmens.
Baidu, der chinesische Internetgigant, begann 2016 mit dem Testen autonomer Autos in China und Kalifornien. Dazu erhielt das Unternehmen eine Testlizenz und ist seitdem, wie jeder andere Lizenzinhaber, verpflichtet, alljährlich einen Disengagementbericht abzuliefern. In dem sind recht simple Angaben zu liefern: Anzahl der Testfahrzeuge, gefahrene Kilometer und Anzahl von Disengagements. Letzteres geschieht dann, wenn ein Mensch die Kontrolle über das Auto übernehmen muss.
Die Disengagementrate, also wie viele Kilometer ein Auto ohne menschlichen Eingriff zurücklegen kann, gilt als zwar ungenaue Kennzahl, die von Experten viel kritisiert und eigentlich als irrelevant betrachtet, sie ist mit den Daten aber aktuell der einzige Einblick in den Stand der Technologie. Keine andere Region der Welt hat eine solche Berichtspflicht, die auch dann veröffentlicht werden, und schon gar keine Region hat dermaßen viele Roboter-Autos auf den Straßen von so vielen Unternehmen.
Der Pionier ist Waymo, die 2009, einige Jahre nach dem DARPA Grand Challenge, gegründete Entität zur Entwicklung autonomer Autos. Mehr als 30 Millionen Kilometer haben die 800+ Fahrzeuge von Waymo bis dato im autonomen Modus abgefahren, und auch wenn die Entwicklung langsamer vorn schreitet als erhofft, so wird Waymo als der große Technologieführer angesehen. Dazu tragen spektakuläre Videos von fahrerlosen Waymos bei, die in Arizona bereits unterwegs sind.
Von 2017 bis 2018 konnte Waymo seine Disengegagementrate beinahe verdoppeln, nämlich von 8.954 Kilometer auf 17.847. CRUISE wiederum vervierfachte die Rate von 2006 auf 8.328 Kilometer pro Eingriff. Wenn auch erstaunlich, so doch im Rahmen des Möglichen.
Und hier ist der Punkt, wo Baidu ins Spiel kommt.
Vorhang auf für Baidu
Die neuen Zahlen für das Berichtsperiode von Dezember 2018 bis November 2019 zeigt für Waymo einen Anstieg vom Vorjahr auf 21.151 Kilometer, also einer Verbesserung von ungefähr 19%, und bei CRUISE eine Steigerung um 135% auf 19.553, so schlägt Baidu scheinbar alles.
2017, wo die ersten Zahlen für Baidu vorlagen kam das Unternehmen gerade auf 65,7 Kilometer pro Eingriff. Ein Jahr später lag die Zahl beim Fünffachen, also genau bei 328,96 Kilometer. Und 2019 katapultiert sich Baidu mit einer Disengagementrate von allen 28.880 Kilometer nach vorne. Eine Steigerung um 8.679%(!).
Und das ist schwer zu glauben und schwer nachzuvollziehen. Mit gerade mal vier Testfahrzeugen in Kalifornien (die Anzahl der Fahrzeuge in China ist nicht bekannt) und gerade mal 173.280 gefahrenen Kilometern (zum Vergleich: Waymo fuhr im letzten Jahr 2.326.620 Kilometer und CRUISE 1.329.664) soll das Unternehmen einen technologischen Quantensprung erreicht und alle überholt haben?
Vermutlich nicht, wenn es mit rechten Dingen zugegangen ist. Und hier wird’s diffus. Soll und kann man den Daten eines Unternehmens mit Stammsitz in China trauen? Nicht, wenn man Wirtschaftskennzahlen des Landes betrachtet. Westlichen Ökonomen und Analysten sind die Fantasiezahlen zu Wachstum und wirtschaftlicher Dynamik, die aus dem Reich der Mitte kommen, schon seit Jahren als erfunden bekannt. Mehrere Jahre hinweg wird einfach dieselbe Wachstumszahl bekannt gegeben. Bei näherer Betrachtung und dem Aufrechnung von anderen Wirtschaftskennzahlen aus den Provinzen und Aktivitäten von Wirtschaftseinheiten wird einem Datenanalysten gleich klar, dass keiner einzigen Zahl, die aus China kommt, vertraut werden darf.
Schlimm wird das, wenn auf diesen Zahlen langfristige Investitionen geplant werden. Sobald sich herausstellt, dass die Zahlen die als Entscheidungsbasis dienten, falsch waren, ist es oft z spät und vielleicht keine ausreichende Zahl an Medikamenten, Wohnungen, Kindergärten, Krankenhausbetten oder Lehrern vorhanden.
Geradezu tragisch wird das, wenn die Zahlen dazu dienen sollen, die Sicherheit einer Technologie vorzutäuschen, die es so nicht gibt. Ein Auto, das nur mehr alle zwei Jahre oder 28.880 Kilometer meinen Eingriff braucht und dazwischen sicher und unfallfrei fährt? Gebt ihnen die Betriebsgenehmigung. Und dann sterben die ersten Menschen.
Mögliche Gründe
Wenn Baidu – wie mit hoher Wahrscheinlichkeiten zu vermuten ist – diese Zahlen nicht erreichen kann, dann stellt sich die Frage, warum sie das gemacht haben? Ist das ein Signal an die politische Führung in Peking, dass chinesische Unternehmen nun führend sind bei der Entwicklung von autonomen Autos, immerhin einer von China also solche identifizierte Schlüsseltechnologie? Gibt es damit politische Vergünstigungen in der Heimat? Wollte man dem kalifornischen DMV zeigen, dass man sich um keinen Deut um deren Auslegung von Disengagements kümmert? Oder war es ein einfacher Rechen- oder Übertragungsfehler und nicht beabsichtigt?
Diese Zahlen von Baidu könnten ein Grund für die reichlich späte Veröffentlichung der Disengagementberichte dieses Jahr gewesen sein, allerdings spekuliere ich da nur, ohne Näheres zu wissen.
Was soll der kalifornische DMV nun tun?
Zuerst mal sollten die Zuständigen im Department of Motor Vehicles nochmals bei Baidu anklopfen in und die Rohdaten der Fahrzeuge Einsicht nehmen, notfalls unter Androhung des Lizenzentzuges.
Zweitens sollte das als Anlass für einen neuen Anlauf zur Definition von besseren und umfangreicheren Kennzahlen, sowie von Testszenarien zur Bewertung des Entwicklungsfortschrittes von autonomen Autos genommen werden. Dazu sollten unter anderem auch die Unternehmen und andere Stakeholder Experten abstellen. Wir sind bereits zu nahe daran, dass diese Technologie die Produktreife erlangt, als dass wir länger warten sollten.
Drittens sollte der DMV auch einen Datenstandard festlegen, mit denen die Sicherheit verbessernde Daten zwischen den einzelnen Herstellern ausgetauscht werden können. Dazu ist es vermutlich notwendig, auch ein zentrales und öffentlich zugängliches Repository mit diesen Daten und Algorithmen zu schaffen, sodass nicht nur eine Flotte an autonomen System, sondern zum Wohle der gesamten Gesellschaft, alle Flotten besserer und sicherer werden.
Was soll Baidu tun?
Also, Baidu: kommt ins Reine mit Euch und uns. Ihr und ich, wir alle wissen, dass Eure Zahlen Humbug sind. Ihr könnt hier nicht einfach so einen Stunt abdrehen, wie Euch das vielleicht in der Heimat durchgeht. Ihr verliert gerade massiv an Vertrauen. Wie sich das auswirkt, könnt Ihr aktuell an Huawei sehen. Deren Vertrauensverlust in der westlichen Welt hat die mit dem Rücken an die Wand gebracht. Wollt Ihr das? Oder ist Euch Business im Westen ohnehin egal? Glaube ich auch nicht.
Und erzählt uns nicht, dass dank Eures Apollo-Systems, das ja ein tolles Projekt ist ein Open Source Betriebssystem für autonomes Fahren zu schaffen, ihr da diesen Quantensprung geschafft habt. Das ist sicher falsch.
Je schneller Ihr mit Euch und uns ins Reine kommt, desto besser für Innovation, Gesellschaft und die Wirtschaft.
Dieser Beitrag ist auch auf Englisch erschienen.
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