Deutschland ist Nummer 1 beim autonomen Fahren, oder?

Medienberichten zufolge brachte die Deutsche Bundesregierung heute, am 10. Februar 2021, einen Gesetzentwurf ein, das den Einsatz von autonomen Autos und Bussen in festgelegten Zonen bundesweit möglich machen soll. Künftig dürfen somit autonome Pendel-Busse und autonome Güter-Transporte auf kurzen Distanzen im Regelbetrieb fahren, die für das vollautomatisierte Fahren der Stufe vier gelten. Es muss aber nach wie vor ein Sicherheitsfahrer an Bord sein, um im Notfall eingreifen zu können. Bislang waren autonome Autos nur mit Sondergenehmigungen und da auf nicht-öffentlichen Verkehrsflächen zugelassen, wie beispielsweise die Busse die auf dem Geländer Charité in Berlin fahren.

Katapultiert sich Deutschland damit an die Spitze des autonomen Fahrens? Das zumindest ist der Eindruck, den man von Experten hört. Deutschland sei das erste Land, das solch ein Gesetz verabschiedet habe. Doch ist das ausreichend? Das zumindest schien der Tenor der Sprecher zu sein, die am 2. Februar bei einer TÜVClubhouse-Session zum Thema „Autonomes Fahren in Deutschland?“ diese Frage diskutierten.

Ähnliche Meinungen hört man, wenn man technische Experten fragt, die auf die Anzahl der Patente zum autonomen Fahren hinweise, bei denen deutsche Hersteller und Zulieferbetriebe federführend seien.

Top 10 Unternehmen für autonome Autos – Zahl der Patente von Januar 2010 bis Juli 2017
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln

Oder anders gefragt: reicht es, ein Fußballstadion hinzustellen und den besten Schiedsrichter zu haben, der die Spielregeln am besten verinnerlicht hat, um Fußballweltmeister zu werden? Sicherlich nicht, denn um Weltmeister zu werden, brauchen wir vor allem mal Fußballer, und nicht nur eine, sondern viele Fußballmannschaften, die in Ligen in vielen tausenden Spielen gegeneinander antreten und die besten Mannschaften ermitteln. Die besten Spieler der besten Mannschaften formen dann die Fußballnationalmannschaft, die sich dann gegen internationale Konkurrenz zuerst in Qualifikationsrunden und dann in den eigentlichen Weltmeisterschaftsendrunden behaupten muss.

Wir brauchen somit nicht nur ein Gesetz und Patente, sondern auch autonome Autos vieler verschiedener Hersteller, die Millionen Kilometer in der Öffentlichkeit abspulen. Denn wir wissen doch, dass man nicht zum besten Fußballspieler wird, wenn man tagein tagaus nur am Trainingsplatz spielt. Genauso, wie das beste Flugzeug nicht rein im Flugkanal entwickelt werden kann, sondern es viele Stunden in der Wirklichkeit bei unterschiedlichen Wetter und Bedingungen fliegen muss.

Flugzeug im Windkanal – Quelle: Wikipedia

Wie sah es also bislang in Deutschland aus? Wer hat autonome Autos in freier Wildbahn in Deutschland gesichtet? Auf der Autobahn? Auf der Landstraße? In deutschen Innenstädten? Mit Passagieren, die auf einen Einkauf zum Supermarkt oder zum Training ins Fitnesscenter fuhren?

Oder andersherum gefragt: welche deutschen Unternehmen sind uns bekannt, die autonome Autos entwickeln? Da fallen uns sofort Daimler, BMW, Bosch und VW ein, von denen wir sicherlich irgendwo etwas gelesen haben. So kürzlich über eine Bosch-Daimler-Zusammenarbeit, die eine selbstparkende S-Klasse in einer Stuttgarter Garage zeigte.

Viele der Entwicklungen scheinen dabei mit Start-Ups zu erfolgen, vor allem mit amerikanischen Start-Ups. So hat VW gemeinsam in Argo.AI investiert, nachdem VW sich aus Aurora Innovation zurückgezogen hatte. Daimler und BMW kündigten ihre Partnerschaft auf, und Daimler kaufte dann nicht nur den autonomen LKW-Entwickler Torc Robotics auf, sondern ging auch eine Partnerschaft mit dem Chiphersteller NVIDIA ein, um zumindest die Elektronikhardware für autonomes fahren zu haben.

Welches deutsche Start-Up können wir nennen, das vollständige Technologie für selbstfahrende Autos entwickelt? Hmmm? Ich kann nur eines nennen: Kopernikus-Auto. Nur eines, und das im Land, das das Auto erfunden hat und das die wichtigste Autoindustrie der Welt besitzt.

Der Unterschied wird deutlich, wenn wir uns die Situation in den USA und da vor allem in Kalifornien ansehen. Aktuell haben 56 Unternehmen eine Lizenz autonome Autos auf allen öffentlichen Straßen in ganz Kalifornien zu testen. Sechs Unternehmen dürfen – auf eingeschränkten öffentlichen Straßenzügen – sogar bereits ohne Sicherheitsfahrer fahren. Tatsächlich hat Kalifornien bereits einem Unternehmen (Nuro) die Lizenz erteilt, sogar fahrerlose kommerzielle Fahrten auf öffentlichen Straßen durchzuführen. Damit fahren dort heute bereits um die 800 autonome Test- und Serienfahrzeuge auf den Straßen. Natürlich haben fast alle OEMs und wichtige Zulieferer solche ein Testlizenz, aber das bedeutet auch, dass um die 40 Start-Ups autonome Autos entwickeln. Nochmals zur Erinnerung: wie viele gibt es in Deutschland, dem Automobilland Nummer 1, das das Autos erfunden hat? Das sollte uns schon den Angstschweiß hochtreiben, noch mehr allerdings, wenn wir uns die öffentlich bekannten Leistungsdaten autonomer Autos ansehen. Dazu gleich mehr.

Zuerst mal ein kleiner Zusammenschnitt von diesen Fahrzeugen, denen ich auf den Straßen immer wieder begegne.

Und das sind nur die Begegnungen mit autonomen Autos in Kalifornien. In den USA haben mehr als die Hälfte der Bundesstaaten ähnliche Regelungen erlassen. Manche – wie Texas – brauchten das gar nicht, denn dort ist nicht mal vorgeschrieben, dass jemand in einem fahrenden Auto drin sitzen muss. In Arizona ist sogar schon eine vollständig fahrerlose Robotertaxiflotte von Waymo unterwegs. Es fahren dort Autos als Taxis, die ohne Fahrer die Passagiere abholen. Insgesamt fahren USA-weit aktuell 1.400 autonome Experimental- und Serienfahrzeuge auf öffentlichen Straßen.

Und diese Fahrzeuge spulen jedes Jahr Millionen von Kilometern ab. Wir wissen für Kalifornien sogar die genauen Zahlen, weil jedes Jahr ein sogenannter Disengagement Report von jedem lizenzierten Unternehmen an die kalifornische Verkehrsbehörde gesandt werden muss. Der für das vergangene Jahr wurde diesen Dienstag veröffentlicht. Und die Zahlen beeindrucken. Sieht man sich aus der Liste der 29 berichtenden Unternehmen nur die beiden Spitzenreiter an und vergleicht sie mit BMW und Daimler (VW hat 2020 nicht in Kalifornien getestet), dann ist das Ergebnis ernüchternd. Nicht nur haben Waymo und GM Cruise jeweils mehr als eine Million Kilometer Fahrten im autonomen Testmodus abgespult, sie haben auch nur ganz wenige Disengagements. Waymo und Cruise kommen auf fast 48.000 Kilometer bzw. fast 46.000 Kilometer autonomen Fahrens, bevor ein Sicherheitsfahrer eingreifen muss, bei BMW muss das ein Sicherheitsfahrer alle 65 Kilometer, und bei Mercedes sogar alle 41 Kilometer.

HerstellerKilometerDisengagementsKilometer pro Disengagement
Waymo  1.006.14221           47.911,50
Cruise  1.232.07927           45.632,55
BMW             1953                  65,07
Mercedes Benz       47.9741.167                  41,11
Ausgewählte Unternehmen aus dem Disengagement Report

Mercedes und BMW liegen mit diesem Ergebnis weit abgeschlagen auf den Plätzen 17 und 19 (die vollständige Liste und mehr Details gibt es hier). nun kann man einwenden, dass diese Zahlen nur die Tests in Kalifornien darstellen, und Testfahrten in anderen Bundesstaaten und anderen Ländern nicht inkludiert sind. Und das stimmt. Nur sind uns keine Zahlen aus anderen Regionen bekannt, weil es dort aktuell keine Veröffentlichungspflicht gibt. Tatsächlich aber zeigen uns diese Zahlen noch etwas anderes: es gibt kaum Meldungen zu öffentlichen Sichtungen von Fahrzeugen deutscher Hersteller aus anderen Regionen. Ich weiß das, weil ich mich einerseits in den einschlägigen Foren herumtreibe, in denen dieses Thema diskutiert wird und die Forenmitglieder aus aller Welt Schnappschüsse von solchen Fahrzeugen posten, und andererseits viele meiner Leser mir Bilder aus dem deutschsprachigen Raum zukommen lassen. Doch diese kommen so spärlich, dass der Schluss gelten muss, dass die Aktivitäten deutscher Hersteller genauso spärlich sind.

Das hat auch nichts mit dem „besseren Marketing“ amerikanischer (oder chinesischer) Hersteller zu tun. Wenn die Autos deutlich sichtbar in der Öffentlichkeit herumfahren, brauche ich kein Marketing. Dieses Testfahrten sind Marketing genug. Weder können wir Fußballweltmeister werden, indem wir immer nur am Trainingsplatz spielen, noch das perfekte Flugzeug nur im Windkanal bauen, noch führend sein bei der Entwicklung autonomer Autos, wenn sie nur auf der Teststrecke und am Simulator entwickelt werden.

Nicht nur haben die USA somit schon jede Menge Selbstfahrtechnologie in Entwicklung, sondern sogar im kommerziellen Einsatz. Und auch die Gesetze in den Bundesstaaten ermöglichen das. Selbst ein übergreifendes Bundesgesetz, von der National Highway & Traffic Safety Administration (NHTSA) und US Department of Transportation (DoT) erstellt, liegt bereits in den beiden Kammern des US Kongress vor, auch der nominierte DoT-Sekretär Pete Buttigieg ist ein Verfechter für autonome Autos. Nicht nur ist somit ein Bundesgesetz eher eine Formalität, auch haben andere Behörden wie die California Public Utility Commission (CPUC) bereits die Zulassung von kommerziellen Robotaxiflotten vorgesehen.

Mit anderen Worten: die USA haben nicht nur das Stadion und den Schiedsrichter aufgestellt, sondern einen ganzen Ligabetrieb schon seit Jahren am Laufen, bei dem wir bereits mehrmals die Meister gekürt und neue Aufsteiger sich sensationell geschlagen haben.

Es ist für Deutschland ein wichtiger Schritt, dass dieses Bundesgesetz verabschiedet wurde. Aber wir müssen jetzt beginnen, auch mal mitzuspielen. Und wir beginnen ganz unten, von der Spitzenposition kann überhaupt nicht die Rede sein.

Dieser Beitrag ist auch auf Englisch erschienen.

7 Kommentare

  1. „mehr als eine Kilometer Fahrten“
    Da fehlt das Wort Million.
    Schöne Grüße aus dem kalten Deutschland!

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  2. … wo hoffentlich bald die Kastrierung des Tesla Autopilot aufhört.
    Keine 20 Sekunden ohne das Lenkrad bewegen zu müssen 😦

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